Why Nostr? What is Njump?
2024-09-22 23:59:04

IC - InfoCollagen on Nostr: Transition-News «Russisches Roulette, in dem wir alle nur verlieren» Vor den Folgen ...

Transition-News

«Russisches Roulette, in dem wir alle nur verlieren»

Vor den Folgen der westlichen Eskalationspolitik gegenüber Russland im Ukraine-Krieg hat die Politikwissenschaftlerin Petra Erler in Berlin gewarnt. Die Lage ist aus ihrer Sicht schlimmer als im Kalten Krieg, weil der Westen nicht mit Russland rede und verhandle. Ein Bericht von Tilo Gräser

Veröffentlicht am 22. September 2024 von TG.

«Alle Leute, die da schwätzen, Russland wird jetzt in der Ukraine taktische Nuklearwaffen einsetzen, kennen entweder die russische Nukleardoktrin nicht oder wollen die Leute verdummen. Noch geht von der Ukraine keine wirkliche Existenzgefährdung des russischen Staates aus.»

Das sagte die Politikwissenschaftlerin Petra Erler am Dienstag in Berlin, wo sie ihr gemeinsam mit dem ehemaligen EU-Kommissar Günter Verheugen veröffentlichtes Buch «Der lange Weg in den Krieg» vorstellte.

Sie sagte das mit Blick auf die mehrfachen Warnungen aus Moskau vor einem möglichen Atomwaffenschlag, falls der Krieg auf ukrainischem Boden weiter eskaliert wird. Das bezieht sich insbesondere auf die diskutierte mögliche Freigabe westlicher Staaten an Kiew, gelieferte Langstreckenwaffen gegen Ziele in Russland einsetzen zu können.

Ihr mache die in dem Zusammenhang von russischer Seite angekündigte mögliche Änderung der Nuklearstrategie Sorge. Diese besage bisher, dass Russland Atomwaffen nur im Fall eines nuklearen Angriffs oder bei der existenziellen Bedrohung des eigenen Staates einsetze.


Dr. Petra Erler am 16. September im Kulturhaus «Peter Edel» in Berlin-Weissensee (Fotos: Tilo Gräser)

Die Politikwissenschaftlerin und ehemalige Mitarbeiterin der letzten DDR-Regierung sowie von Verheugen als EU-Kommissar beantwortete im Berliner Kulturhaus «Peter Edel» Fragen zum Buch und zu dessen Thema. Die stellte ihr Alexander Neu, ebenfalls Politikwissenschaftler und ehemaliger Bundestagsabgeordneter für die Linkspartei.

Erler gestand ein, im Februar 2022 vom russischen Einmarsch in die Ukraine «schockiert» gewesen zu sein. Das war sie nach ihren Worten aber auch über die nachfolgenden antirussischen Emotionen, die sich in Politik, Medien und Gesellschaft breitmachten.

«Nicht vom Himmel gefallen»

Sie und Mitautor Verheugen würden Krieg grundsätzlich verachten, aber auch der in der Ukraine sei «nicht vom Himmel gefallen». Sie beklagte, dass die bundesdeutsche Politik nicht mit einer gewissen Distanz fragte «Wie ist es so weit gekommen?»

«Wie konnte es geschehen, dass in der Mitte Europas – denn die Ukraine ist in etwa die Mitte Europas – ein Konflikt explodiert, der sich über lange Jahre abgezeichnet hat?»

Gleichzeitig sei ihnen aufgefallen, dass es zunehmend eine Verengung des Diskurses gegeben hat. Meinungen, die sich für eine schnelle Friedenslösung einsetzten und vor einem drohenden Atomkrieg warnten, seien als solche von «Putin-Verstehern» oder «Lumpenpazifisten» abgetan worden.

Der russische Einmarsch in die Ukraine sei völkerrechtswidrig, betonte Erler, wies aber zugleich auf die Ursachen hin. Und fügte mit Blick auf die westliche Politik hinzu:

«Wir tragen eine maßgebliche Mitschuld daran, dass sich dieser Konflikt zuspitzte.»

Sie sieht den Beginn des Konflikts in den Verhandlungen ab 1990, die die sogenannte deutsche Einheit vorbereitete, die Übernahme der DDR durch die BRD. Die alliierten Siegermächte wie auch die beiden deutschen Staaten hätten über den besten Weg dafür diskutiert.

Frühzeitig habe sich gezeigt, dass die USA das größere Deutschland in der Nato halten wolle. Das sei auch das Ziel der letzten DDR-Regierung gewesen, erinnerte sich die ehemalige Staatsekretärin, allerdings unter der Voraussetzung, dass sich die Nato zu einem politischen Bündnis wandele, das allen offenstehe.

Gebrochenes Versprechen

Sie erinnerte ebenso an das westliche Versprechen in dem Zusammenhang an Moskau und den letzten KPdSU-Generalsekretär Michail Gorbatschow, dass die Nato sich nicht nach Osten ausdehnen werde. Das sei von US-Seite ebenso gesagt worden wie von britischer, französischer und auch bundesdeutscher.

«Und noch im Jahr 1991 wusste man es auf der Ebene der politischen Direktoren, dass das das Versprechen war. Und ich bin persönlich überzeugt, dass es mit dem alten US-amerikanischen Präsidenten Bush senior nicht zu dieser Entwicklung gekommen wäre.»

Erler sieht den Bruch des Versprechens im Jahr 1994 unter US-Präsident William («Bill») Clinton. Damals hätten sich in den USA diejenigen durchgesetzt, «die seit dem Jahre 1990 an nichts anderes dachten, als nur die Situation des Siegers des Kalten Krieges auszukosten und die Gelegenheit als einzig verbliebene Supermacht zu nutzen».

Ihre Überzeugung, dass es mit George Bush senior anders gelaufen wäre, dürfte aber nur mehr Wunsch sein als dass es der Realität entsprochen hätte. Davon zeugt, was die Politikwissenschaftlerin Mária Huber 2002 in ihrem Buch «Moskau, 11. März 1985 – Die Auflösung des sowjetischen Imperiums» über den Umgang der damaligen Bush-Administration mit der untergehenden Sowjetunion berichtete:

«Worauf es Washington vor allem ankam, hielten zwei prominente Harvard-Professoren mit Blick auf den Weltwirtschaftsgipfel in London Mitte Juli 1991 fest: Was auch immer Gorbatschow zwischen 1985 und 1991 im Interesse des Westens geleistet haben mochte, die aktuelle Politik der USA gegenüber der Sowjetunion könne nicht mit Moskaus früheren Verdiensten begründet werden. Sie müsse sich vielmehr an der Frage orientieren, welche wichtigen US-Interessen betroffen seien. Als Grundregel postulierten Allison und Blackwill: Die amerikanische Politik gegenüber der UdSSR habe künftig ebenso hart und subtil zu sein wie während des Kalten Krieges.»

Für Erler handelt es sich bei dem gegenwärtigen Krieg auf ukrainischem Territorium um einen Weltordnungskrieg, wie sie auf eine Frage von Neu sagte. Zum vermeintlichen russischen Imperialismus erklärte sie, der gegenwärtig einzig imperiale Staat seien die USA, die ihre globale Hegemonie zu verteidigen suchten.

Dabei spiele die Ukraine eine wichtige Rolle, erklärte sie mit Verweis auf Zbigniew Brzezinski, aber das sei nicht das erste Mal in der Geschichte, dass sie als «Rammbock» gegen Russland gesehen und benutzt werde. Das Deutsche Reich habe im Ersten Weltkrieg geglaubt, wenn es die drei baltischen Staaten und die Ukraine als die Kornkammer vom zaristischen Russland abtrenne, könne es dieses schlagen.


Dr. Petra Erler und Dr. Alexander Neu im Gespräch

In dem Gespräch mit Neu beantwortete die Politikberaterin zahlreiche Fragen zu den einzelnen Themen des Buches und zu den aktuellen Entwicklungen. Sie kritisierte, dass der Westen nie aufgehört habe, arrogant die legitimen russischen Sicherheitsinteressen zu ignorieren.

Nicht gewollte Friedensverhandlungen

Und sie wies daraufhin, dass Moskau bereits seit dem Jahr 2000, nach dem ersten Amtsantritt von Präsident Wladimir Putin, deutlich gemacht habe, dass es die bis dahin von allen akzeptierte US-Dominanz in der Welt nicht mehr widerspruchslos hinnehme. Erler sieht als ursprüngliches Kriegsziel Russlands, mit dem Einmarsch in die Ukraine die Minsker Vereinbarungen mit militärischem Druck durchzusetzen.

Der Moderator sprach sie auf die Aussage der ehemaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel an, die Minsker Vereinbarungen hätten Kiew nur Zeit für die Vorbereitung auf den Krieg verschaffen sollen. Die Politikwissenschaftlerin gestand ein, dass sie lange nicht glauben konnte, dass Merkel «falsch gespielt» habe, aber es sei nur so zu erklären.

Sie verwies auf die letzten Verhandlungsangebote Russlands im Dezember 2021 und noch bis kurz vor dem Einmarsch im Februar 2022. Nach deren Ablehnung habe Präsident Putin die Gelegenheit genutzt und sei dem Nato-Beispiel gefolgt, durch eine militärische Intervention die geforderte Neutralität der Ukraine zu erzwingen.

«Und dieser Plan hätte auch fast funktioniert, in Anführungsstrichen, denn es kam ja sehr schnell zur Verhandlung zwischen der Ukraine und Russland, wie dieser furchtbare Krieg zu Ende gehen kann.»

Die Verhandlungen in Istanbul im Frühjahr 2022 hätten zwar nach Aussage mehrerer Beteiligter zu einer möglichen Friedenslösung geführt. Das sei aber von westlicher Seite verhindert worden, was zuerst von der Ukrainskaja Prawda am 5. Mai 2022 berichtet und kürzlich von Ex-US-Außenpolitikerin Victoria Nuland bestätigt worden sei.

Es handele sich um «Realitätsverweigerung», wenn bis heute unter anderem deutsche Medien und deutsche Politiker wie Kanzler Olaf Scholz (SPD) die in Istanbul erreichten Verhandlungsergebnisse bestritten, so Erler. Sie äußerte unter anderem ihre Sorge, dass der Westen in seiner Hybris «in einer Blase» feststecke, während sieben Milliarden in der Welt «sich zunehmend verwundert die Augen reiben, was wir an Heuchelei und Doppelzüngigkeit unter dem Banner von Werten und Demokratie so alles betreiben».

Fatales Diplomatieverbot

Der ehemalige Bundestagsabgeordnete Neu äußerte in dem Gespräch mit Erler seine Vermutung, wenn ein Land der EU beitreten wolle, müsse es erst in die Nato aufgenommen werden. Das habe sich bei den bisherigen Osterweiterungen von Nato und EU gezeigt.

Doch die ehemalige EU-Mitarbeiterin widersprach dem und sagte, als sie für die erste Runde der EU-Osterweiterung tätig war, habe es nie Gespräche oder eine Zusammenarbeit mit der Nato gegeben. Die Nato wolle nach ihren eigenen Grundsätzen keine Mitglieder, die Konflikte in das Bündnis tragen, weshalb auch die Ukraine bis heute nicht Mitglied geworden sei.

Sie bestätigte aber, dass in der Ukraine ultranationalistische und neofaschistische Kräfte vor allem aus dem Westteil des Landes nicht erst seit 2014 einen großen Einfluss haben. Das reiche gegenwärtig vom Einsatz dieser Kräfte in den ukrainischen Truppen bis hin zu massivem Druck auf Präsident Wolodymyr Selenskyj einschließlich offener Gewalt- und Mordandrohung für den Fall eines Friedensangebotes an Russland. Neu darauf:

«Das bedeutet, das mit Selenskyj kein Frieden zu machen ist, weil sein Leben daran hängt.»

Erler beklagte, dass es in der EU anscheinend ein «Diplomatieverbot» gegenüber Russland gebe.

«Mit Russland wird nicht gesprochen. Das bedeutet, dass wir in einer Lage sind, die viel schlimmer ist, als es zu Zeiten des Kalten Krieges war, als zumindest in der Kubakrise noch Chruschtschow und John F. Kennedy miteinander kommunizierten und einen Ausweg aus der Krise fanden. Es gibt niemanden mehr, der mit Moskau spricht und Dinge auslotet.»

Es sei alles «offen für Spekulationen», was gravierende Folgen habe angesichts der Tatsache, dass die USA und Russland Nuklearmächte sind. Es handele sich um «eine Art Russisches Roulette, in dem wir alle nur verlieren».

Alternative zum Krieg?

Die Politikwissenschaftlerin warnte davor, die Folgen eines auf russischer und US-Seite diskutierten begrenzten Atomkrieges zu verharmlosen. Noch sei US-Präsident Joseph Biden und seinem russischen Amtskollegen Putin klar:

«Wer die erste Atombombe wirft, beginnt den dritten Weltkrieg.»

Auf eine Frage aus dem Publikum, was denn aus ihrer Sicht Russland im Februar 2022 noch hätte tun können, um einen Krieg in der Ukraine zu vermeiden, gestand Erler ein, dass der Westen alle Möglichkeiten abblockte. Das ist auch in dem Buch nachzulesen, wie die westliche Politik zielgerichtet auf den Stellvertreterkrieg gegen Russland in der Ukraine zusteuerte.

Doch sie ist immer noch der Meinung, dass «der russische Präsident dringend den UN-Sicherheitsrat hätte anrufen müssen, wenigstens noch einmal in die Generalversammlung der Vereinten Nationen zu gehen, um das ganze Dilemma nun der Weltöffentlichkeit zu zeigen». Es sei nicht zu entschuldigen, «zur Waffe zu greifen und einen Krieg oder eine begrenzte militärische Operation zu beginnen», sagte sie dazu.

«Das Recht des Stärkeren darf niemals siegen und es entlastet Putin auch nicht, das andere es auch schon gemacht haben. Es setzt das nur in Perspektive, denn diejenigen, die sich heute so über diese furchtbare Aggression beschweren, das sind doch die Aggressoren, die seit Jahrzehnten über diesen Globus laufen und einen Krieg nach dem anderen, ein Regimechange nach dem anderen vom Zaun brechen und sich für die Demokratie in Wahrheit nicht wirklich interessieren.»

+++

Quellen & Links

Buchtipp:
Günter Verheugen/Petra Erler: «Der lange Weg zum Krieg – Russland, die Ukraine und der Westen: Eskalation statt Entspannung»
Heyne Verlag 2024. 336 Seiten; ISBN 978-3-453-21883-3; 24 Euro

Transition News: Buchtipp: Vom langen Weg in den Ukraine-Krieg und dem schweren Weg wieder hinaus - 8. September 2024

Nachrichten einer Leuchtturmwärterin: Rückblick März 2022: Wer kein schnelles Kriegsende in der Ukraine wollte - 1. September 2024

Transition News: Ex-General Kujat: Westliche Eskalationsstrategie führt Ukraine in die Katastrophe - 17. September 2024

+++

https://transition-news.org/russisches-roulette-in-dem-wir-alle-nur-verlieren
Author Public Key
npub1d2rf8ka4e7hk6jw2w9ylh5kxeksnqvlyvjg334ungamd757gdtrq34tdj5